#2020shitisplenty

„Kannst Du die Tassen nicht nach unten räumen und die Gläser genau da drüber?“ Marie schaut mich mit großen Augen an. Und ich schaue auf die Rechtecke des Ikeas Regals. Des Regals, das für eine ganze Generation von Jugendlichen als Freiheit angesehen wurde, war es doch das erste Möbelstück, das selbst ausgesucht wurde und das als Raumtrenner vor dem Kinderbett stand, mit bunten Kisten, Schulbüchern und Ordnern befüllt und mit Duftkerzen und einer Pflanze vollgestellt war. Bei mir steht es nun im Keller des Hauses, in dem meine neue Wohnung sein wird und sorgt dafür, dass ich 20 Rechtecke zur Verfügung habe, um all den Küchenkram, den ich für meine Empfänge benötige und der in 20 Kisten sortiert ist, zu verstauen. 

2,432902008177e18 Möglichkeiten kann ich mir aussuchen, wie ich die Tassen, Gläser und Flaschen, das Waffeleisen und die Pastamaschine, Suppenlöffel, Weihnachtskugeln und Gesellschaftsspiele und all die anderen Dinge in den Kisten, einräumen kann. 2,4 Trillionen. Also 2,4 Milliarden Milliarden. Also eine 2,4 mit 18 Nullen. Unzählige Möglichkeiten also. Und dann muss ich erstmal durchatmen und schaue Marie an. Sie steht da, unterstützt mich beim Ordnung machen und ich habe das Gefühl, dass sich die Ordnung in meinem Keller auf mein Leben projizieren sollte. #2020loveisplenty. 

Das war mein Vorsatz für 2020. Kurz vor dem Jahreswechsel stand er vor mir, sagte: „Egal was war, ich freue mich auf ein gemeinsames kommendes Jahr. Ich liebe Dich.“ Mein neuer Job startete am zweiten Tag des neuen Jahres. David und ich hatten große Pläne für das Jahr. Mit Max wollte ich in Urlaub, Gretas erste Worte wollte ich live miterleben, meinen ersten wissenschaftlichen Artikel mit meinem Mentor wollte ich schreiben, den Sommer und viel Prides genießen, Europa bereisen, mit Torsten zu „Servus, Grüzi und Hallo“ auf den Bierbänken tanzen und und und. Stattdessen kam die Trennung, eine weltweite Pandemie, Homeoffice, Absagen von Veranstaltungen, geschlossene Grenzen und ein Umzug. 

Jetzt stehe ich hier. Inmitten von Küchenutensilien in rechteckigen Boxen, halte Sicherheitsabstand zu Marie und mache mir Gedanken, welche Möglichkeiten mir jetzt noch bleiben und komme nicht umhin mich zu fragen: Ist der 2020plenty-Reim nicht passender mit shit als mit love?

Letztes Jahr als ich mir im Büro mit Toni Gedanken zum Hashtag für den anstehenden Neujahresempfang gemacht habe, habe ich genau mit ihr über all die tollen Pläne mit meinen liebsten Menschen gesprochen und somit war schnell der Reim zu #2020loveisplenty gefunden. Die Einladungen waren schnell verschickt, das Jahr geplant, ja sogar von einem Freund wurde das Motto zitiert und sein Mantra für 2020. Nun, fast ein halbes Jahr später sieht alles ganz anders aus. Ich habe in dem ganzen Chaos die erstbeste Wohnung zugesagt, bei der ein Hauch einer Möglichkeit bestand, dass ich sie am Ende wirklich bekommen sollte, hab die Arbeit auf Homeoffice umgestellt, fleißig mit Mike Kisten gepackt und die Möglichkeiten durchdacht, mit welchen Listen und durchdachten Zügen ich einen Umzug mit Namenslisten, Zeitfenstern und Teams organisiert bekomme, obwohl das ganze Land unter strikten Restrektionen steht. Schnell wird klar, dass ich mich auch hier wieder auf die liebsten Menschen verlassen kann, mit denen ich so viele andere Dinge angedacht hatte, als Schränke auseinander bauen, Waschmaschinen schleppen, Küche zusammensetzen oder eben Puzzle spielen im Keller. Es sollte ein Jahr voller spannender Abenteuer, toller Momente und freudiger Situationen werden. 

Aber wer sagt, dass es das nicht immer noch werden könnte, oder gar nicht schon lange so ist? Das Leben gibt so viele Möglichkeiten. Ich hatte spannende Gespräche mit all meinen Freund*innen per Videocall, tolle Momente trotz Community-Maske und freudige Situationen beim Renovieren meiner neuen, traumhaftschönen Wohnung. Und nach einigen Momenten, in denen ich im Keller tief Ein- und Ausatme, einem langen Blick in Maries Augen, auf die Schrankwand und auf die Kisten auf den Boden weiß ich auch, welche Möglichkeit ich nutzen werde, die Kisten im Regal zu verstauen. Ich habe unzählige Möglichkeiten dafür. Eine so hohe Anzahl an Möglichkeiten, dass sich beim Rechnen die 18 Nullen nicht auf dem Display abbilden lassen und durch ein e ersetzt werden. Unmöglich also, dass nicht mindestens eine richtige Möglichkeit dabei ist. Und wenn mein neuer Keller mit nur 20 Kisten in 20 Fächern so viele Möglichkeiten bereithält, dann kann es doch unmöglich sein, dass 2020 mit all den Tagen, mit all den Menschen, mit all der Zeit, nicht auch unzählige grandiose Möglichkeiten bereithält.

Denn am Ende ist es doch: Vielleicht ist 2020shitisplenty ein kurzer und flüssiger Reim, aber die Wahrheit ist so viel schöner: 2020oppertunitiesareplenty.

andreas

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