Dat Krokodil well Dich fresse!

Ich klebe. Alles an mir. Meine Hände, mein Hals, meine Oberschenkel. Meine Haut fühlt sich an wie die Rückseite des Gafferbands, das das Karton-Konstrukt-Kostüm schräg rechts von mir zusammenhält. Selbst meine Sneaks kleben auf dem gekachelten Boden im Corner fest. Mit jedem Schritt, den ich machen will, weil ich auf die laute, sehr laute, Karnevalsmusik meine besten Hüft- und Tanzschwünge hinlegen will, muss ich meine schwarzen Nike Sneaks richtig vom Boden hochreißen.

Die erste richtige Karnevalssession nach drei Jahren. Und sie musste an nichts einbüßen. Die Eckkneipe auf der queeren Bar-Meile von Köln ist wie immer bumsvoll. Ein Biber steht neben einem Bund Bio-Gemüse, etwas weiter tanzt Tim mit Struppi eng umschlugen mit einem Mann in einem weniger kreativen S.W.A.T.-Kostüm. In der Ecke sehe ich eine wirklich attraktive Mikey Mouse mit Schnäuzer, der ich schon das ein oder andere Mal verschmitzt zugelächelt habe. Und bilde mir auch ein, dass ich ein Lächeln zurückbekommen habe. Nun, zwischen einem Schneeleoparden, dem Pokemon-Trainer Ash, einem Cowboy, dem Krümelmonster und einem Matrosen stehe ich also als Neandertaler mit großer Keule. Nicole sagte mir vorhin noch, dass ich aufpassen soll, dass ich in dem Fetzen von Stoff nicht krank werden soll. Ich hatte sie beruhigt und ihr gesagt, dass die lebenswichtigen Organe mit Stoff bedeckt seien. Eine leichte Übertreibung, weil dieser Stofffetzen vor Jahren von meinen alten Kolleginnen im Kaufhof in einer Hau-Ruck-Aktion an Weiberdonnerstag in Handarbeit zusammengenäht und so geschnitten wurde, dass ich das Ganze als junger, pummliger Eifler über warme Winterkleidung werfen konnte. 

Jetzt trage ich dieses Ding nur zusammen mit einer – mehr oder weniger stoffreichen – Unterhose. Hier im Corner ist‘s allerdings die beste Lösung, da es durch die Massen an Menschen, die schlechte Luft und den engen Raum sehr, wirklich sehr warm ist. Manche Menschen munkeln ja, dass das Gebäude nur noch durch Schweiß, Sperma und Kölsch zusammengehalten würde. Die Stimmung ist gut, alle halten ihre Plastikbecher in der Hand, lachen, schunkeln und feiern Karneval. Die meisten sind textsicher und grölen wie ich die Songtexte nur so mit. Cat Ballou, Kasalla, Brings, Miljö, Willi Millowitch. Das Corner ist eine sichere Bank, wenn es darum geht, an Karneval die Klassiker, aber auch die neuen Karnevals-Hits zu hören. Neben dem neuen Song von Cat Ballou hat es in diesem Jahr der neue Song von den Höhnern geschafft, mein Herz, mein Rhythmusgefühl und meine Kehle zu erobern. „Prinzessin“. Schließlich geht es in dem Song ums Bützen, das Anflirten und das Beschützen. Und der Beat und der Text sind hervorragend eindringlich. Kein Wunder also, dass meine Endorphine in die Höhe schnellen, als ich nun tanzend die ersten Takte des Songs aus den Lautsprechern vernehme. Just in diesem Moment möchte der Cowboy die Location wechseln. Da wir ganz am Ende der Bar stehen und durch die Mengen an Menschen locker mehr als fünf Minuten benötigen, nutze ich den Schwung des Songs und bewege mich tanzend und grölend durch die Menge Richtung Ausgang. Und das Ganze natürlich nicht, bevor ich der Schnäuzer Mickey Mouse in der Ecke nochmal zugelächelt und -gezwinkert habe. Vorbei am Biber, dem Bund Bio-Gemüse, Tim mit seinem Struppi und dem S.W.A.T.-Agenten bis ich vor einem Commander Spock beim Refrain des Songs zum Stehen komme. Die Menge in der Mitte der Bar ist einfach zu dicht beieinander. Commander Spock lächelt mich an. Ich lächle zurück. Schließlich ist es Karneval und wir alle wollen feiern. Er wird so um die 60 Jahre alt sein und sicher seit der Erstausstrahlung der Serie Star Trek-Fan sein. Ich reiße meine Arme hoch und schreie laute den Text des Refrains und singe mit Spock quasi ein Duett: „Pass op, pass op, Prinzessin! Dat Krokodil well Dich fresse!“ Ich lächle die ganze Zeit. Die Menge bewegt sich weiter und dann passiert es. Spock greift zwischen den Stofffetzen hindurch und direkt an meinen Po. Und zwar so, als wolle er bei mir eine Untersuchung durchführen, die selbst mein Proktologe nur selten vornimmt. Meine Hände schnellen runter und schlagen seine Hand weg. 

Ich bin geschockt. Hat er meine nette Karnevalslaune falsch gedeutet? Hab‘ ich ihm mit meinen Gesangseinlagen so den Kopf verdreht, dass er es so falsch gedeutet hat und ich es gut finden würde, dass er mich einfach anfasst? Muss ich damit zurechtkommen, dass ich angetatscht werde, wenn ich so leicht bekleidet feiern gehe? So komme ich nicht umhin mich zu fragen: Ist ein Besuch in einer vollen Bar zu Karneval schon Konsens genug?

Consent is key – wenn ich wegen meines Ehrenamtes auf Sex- und Fetischpartys unterwegs bin und dort Beratung anbiete, dann ist das ein Satz, den ich mindestens einmal in jedem Gespräch einbaue. Nur Ja heißt Ja. Jede:r soll sich wohl fühlen mit den Dingen, die die andere Person mit einem macht. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele in der schwulen Community das Ganze noch etwas anders sehen. Wenn ich auf Partys unterwegs bin, die von Heterosexuellen organisiert und überwiegend auch von denen besucht werden, sind dort Awareness-Teams unterwegs, die Regeln erklären, für Fragen bereitstehen und Consent is key an alle Teilnehmenden klar kommunizieren. Wenn ich dann kurze Zeit später in der schwulen Sexsauna bin, dann höre ich von vielen Besuchern, dass im dortigen Dampfbad ein ungefragter Griff in den Schritt ganz normal sei. Wann immer ich mit unterschiedlichen Menschen dazu spreche, bekomme ich unterschiedliche Meinungen. Man müsse sich darauf einstellen, wenn man in solche Locations geht, dass dort der direkte Griff in den Schritt gestattet sei. Andere meinen, dass der Griff in den Schritt nicht erlaubt sei, alle anderen Körperstellen aber direkt angefasst werden können. Wieder andere sehen das eher wie ich: Ich möchte nicht von fremden, mir nicht zugewandten Leuten ungefragt, ganz aus dem Kontext herausgerissen, angefasst werden. Man kann nicht nicht kommunizieren. Also kann man meiner Meinung nach auch mit einem Blick, einem netten Lächeln, mag es gar eine leichte Berührung an der Schulter sein, beginnen. Kontakt aufbauen. Alkohol, Karneval oder Hormonhaushalt hin oder her. Ich weiß nichts von meinem Gegenüber und kann nicht davon ausgehen, dass Berührungen, die ich noch in Ordnung finde, dem oder der anderen vielleicht schon zu viel sind. Vielleicht ist es der erste Besuch in einer Sexsauna ohne Wissen über das dortige Verhalten, oder vielleicht ist der Neandertaler, der mir da gerade gegenübersteht selbst an Karneval um 17:30 Uhr noch nüchtern und trägt dieses irgendwie sexy Kostüm nur aus dem Grund, weil er sich darin gerade besonders gut fühlt. Vielleicht ist der Neandertaler mit Karneval groß geworden, hat schon als Kind in der Bütt gestanden und mag es einfach, in einem Cola Zero-Rausch laut singend und lachend zwischen schwitzigen Menschen die jecke Zick zu genießen. 

Sobald ich draußen bin nehme ich tief Luft. Der frische und kalte Sauerstoff zieht durch meinen Körper und beruhigt mich. Mir läuft es kalt den Rücken runter. Weniger wegen der Kälte, sondern eher wegen der gerade erlebten Situation. Ich will mir davon nicht den Abend und die Karnevalstage versauen lassen. Kommt es doch regelmäßig vor, dass ich im vollen Corner, aber auch anderen Läden, einfach so angetatscht werde. Das gerade war einfach noch einmal eine Schippe näher an einer Ärzt:innen-Untersuchung, als mir recht gewesen wäre. Daher ist das mit der Laune nun auch so eine Sache. Es wäre allerdings auch eine Lüge, wenn ich sagen würde, dass ich Berührungen von Männern, die ich gut finde, nicht auch gut finden würde. Aber ich will doch schon selbst bestimmen, wen ich an mich ranlasse und wen nicht.

Krümelmonster und Ash haben Lust auf ein Schnitzelbrötchen. Und Kohlenhydrate und Fett sind nun genau das richtige, um meine Laune wieder irgendwie in den Griff zu bekommen. Also begeben wir uns in gewohnter Manier zu Gerny’s Schnellimbiss für Stressliebhaber und ich bestelle drei Schnitzelbrötchen. Senf, Ketchup und Remoulade. Jede:r mag halt etwas anderes. Die Verkäuferin schaut mich an und mustert mich eine Sekunde zu lange.

„Du, ich hab da ens n Frach an Dich!“
Ich schau erst über meine rechte, dann über meine linke Schulter. Sie meint mich. Da bin ich mir nun sicher. Und ich habe keine Lust auf Smalltalk.
„Ja?“
„Sach ens, ich kenn dich doch nur als blond, oder? Das bes du doch, oder?“
Früher, als ich noch Assistent der Geschäftsführung im Hotel die Straße runter war, war ich regelmäßig hier.
„Ja, das bin ich. Ich bin schon länger zurück zu meiner Naturhaarfarbe. Aber wir hatten ja auch lange kein Karneval mehr.“ Ich lächle gezwungen und versuche nett rüber zu kommen.
„Ach, ich wusst et doch! Wollt nur sagen, dat Du jez jut und noch besser ussiehst. Alaaf.“ Sie dreht sich rum und fischt schon die nächste Lauch-Käsesuppe aus dem großen Topf für den – ebenfalls wieder mal unkreativen – Jet-Piloten hinter mir. Und dabei sieht sie nicht, wie ich nun richtig und aufrichtig lächle. Ein Kompliment kann so einfach sein. Ganz ohne Grenzüberschreitung. 

Unsere Gruppe hat sich ein wenig aufgelöst, sodass ich nur noch mit Ash, dem Krümelmonster und dem Schneeleoparden langsam über die Schaafenstraße schlendere, dabei mein Schnitzelbrötchen esse und anfange, ganz arg zu frieren. Karneval findet nun mal mitten im Winter statt und ich habe nicht besseres zu tun, als mein altes Straßenkarnevalkostüm einfach über meinen nackten Körper zu schmeißen. Ich grinse und gebe meinen Jungs zu verstehen, dass wir alsbald wieder irgendwo einkehren müssen, da ich mir, im wahrsten Sinne des Wortes, den Arsch abfriere und meine Laune dank Brötchen und ernstgemeintem Kompliment wieder gerettet sei. Also steuern wir das Kinkz an. Eine noch relativ neue Bar auf der Schaafenstraße, die durch ihre besondere Einrichtung und den Live-DJ zu Karneval zu meinem neuen Favoriten geworden ist. Weniger unangenehm voll und laut als das Corner, aber mindestens genauso gute Musik und nette Leute. Ich steuere direkt die Bar an, weil ich dran bin mit der nächsten Runde. Ich und meine Party-Mäuse: drei Cola Zero und ein Drecksack. Ich bin wieder zurück zum natürlichen Lächeln und meiner guten Laune, aber als ich sehe, dass meine Jungs direkt neben einem Bauarbeiter in orangenen Klamotten und Gummistiefeln stehen, der eine Mickey Mouse mit Schnäuzer im Schlepptau hat, wird mein Grinsen allerdings noch breiter. Ich stoße mit meinen Leuten an und steige dann wieder in den Text ein, der gerade in der Bar gespielt wird. „Leev Marie, ich bin kein Mann für eine Nacht.“

Karneval ist ein Fest, das wir in Köln die letzten 200 Jahre immer richtig gefeiert haben und auch weiterhin richtig feiern werden. Lieder singen, das ein oder andere Kölsch trinken, Traditionen pflegen und einfach Spaß haben. Allerdings gehört für mich dazu auch der gegenseitige Respekt und das aufeinander Acht geben. Ich nehme mir vor, in meiner Arbeit, aber auch in meiner Freizeit in nächster Zeit wieder häufiger auf Ja heißt Ja hinzuweisen, ohne dabei den Spaß an der Sache zu verlieren. Denn das geht ganz einfach, wenn man denn will. 

Und als hätte der DJ hinten in der Ecke meine gute Laune in meinem Gesicht ablesen können, spielt er „Prinzessin“ von den Höhnern. Bereits bei den ersten Takten suche ich Augenkontakt zur Schnäuzer Mickey Mouse und schwinge meine Hüften in seine Richtung. Ich lächle. Er lächelt. Wir bewegen unsere Hüften gemeinsam im Takt und er reißt seine übergroßen, weißen, vierfingrigen Hände in die Höhe. Ich tanze immer näher zu ihm und er zur mir. Langsam nähern sich seine Handschuhe meinen Schultern. Ich schreie: „Pass op, pass op, Prinzessin! Dat Krokodil well Dich fresse!“ und schaue ihm tief in die Augen. Während die Höhner weiter singen: „Vielleich’ wör et am Beste do blievs bei mir un ich bei Dir.“ berühren sich unsere Lippen und wir küssen uns.

Denn am Ende ist es doch so: Einverständliches Bützen gehört an Karneval irgendwie dazu. 

andreas

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