Sieben ist eine magische Zahl

21, 22, 23. Ich zähle laut sieben Sekunden ab. Ich spüre Mikes Arme fest um meinen Oberkörper. Wir stehen am Neumarkt bei den Fahrradständern und drücken uns. Erst gestern morgen erzählte er mir, dass er gelernt hätte, dass eine Umarmung mindestens sieben Sekunden lang sein müsse, damit die Produktion des Hormons Oxytocin angeregt würde. Nicht nur das emotionale Wohlbefinden wird nach dieser Zeit besser, nein sogar das physische wird positiv beeinflusst, der Körper heilt schneller, das Immunsystem wird gestärkt, die Herzfunktion verbessert. Dafür sorgen die ganzen chemischen Abläufe im Körper.

Ich erinnere mich noch so genau daran. Dennoch kommt es mir vor, als läge die ganze Situation nun schon Jahre zurück. Jetzt, wo ich offiziell vom Gesundheitsamt der Stadt Köln unter Absonderung stehe und bereits sieben Tage das Haus nicht mehr verlassen habe. Als Rückkehrer aus dem vom Robert-Koch-Institut als Risikogebiet eingestuften Tirol und nach einem Test auf das Corona-Virus, wurde ich bereits in der Uni Klinik mit offiziellem Schreiben aufgefordert, das Haus 14 Tage nicht mehr zu verlassen. Wie fühlt es sich an, in einer halb leeren Wohnung mit Nudeln und TK-Gemüse zu verharren? Was sind die Gedanken, die einem durch den Kopf gehen, wenn man das erste Mal in seinem Leben wirklich allein lebt? Was geht in einem vor, wenn man als sozialer Mensch niemanden mehr von Angesicht zu Angesicht sehen kann? Und überhaupt: Welche Gefühle kommen hoch, wenn man keinerlei Berührungen mehr zu Menschen hat? 

Deutschland lebt aktuell in einer turbulenten Zeit. Medien und Politik sind sich einig: Eine solche Krise gab es seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr. Das Land war noch nie mit solchen Gegebenheiten konfrontiert. Menschen hamstern und verhalten sich zuweilen verrückt. Meine Mutter Gertrudis ist den ganzen Tag damit beschäftigt, Toilettenpapier im Verkaufsraum nachzulegen, Christian wird in den Krankenhäusern die Schutzkleidung knapp und mittelständische und freiberufliche Unternehmer*innen bangen um ihre Existenz. Und ich? Ich rede seit Tagen nur noch mit David und Max durch die geschlossene Türe. Täglich stellt mir ein anderer lieber Mensch etwas vor die Türe. Ob Saschas selbst gemachtes Pesto mit nettem Gruß auf dem Glas, Schmittchens Mengen an Ingwershots fürs Immunsystem oder Mikes dicker Stapel an Kinderbüchern fürs virtuelle Vorlesen. Alles landet in der Kiste. In eine Kiste vor der verschlossenen Wohnungstüre. Denn die Kiste habe ich extra dort aufgestellt, damit ich bloß niemandem zu nah komme. Geschweige denn Überhaupt sehe.

David kommt an manchen Tagen zweimal. Max ruft immer via Facetime an, wenn er mir wieder einmal Milch für einen Kakao gebracht hat, damit wir uns beim durch-die-Türe-reden auch noch einmal sehen können. Es fühlt sich – trotz der ganzen Aufmerksamkeit und Liebe meiner Freund*innen – zeitweise einsam an. Es geht schnell, dass man sich, wenn man weder Kontakt noch Berührungen hat, von der Außenwelt abgeschnitten, gar manchmal vergessen vorkommt. Die gerade ganz neuen Kolleg*innen, mit denen ich mir erst einige Wochen das Büro geteilt habe, sehe ich nur noch unregelmäßig via Zoom. Mit Frauke, die beste Seele im Büro, muss ich mir sogar einen festen Termin für unseren täglichen Jour Fixe als Telefonkonferenz festlegen. Sonst neben der Kaffeemaschine stehend, geht unser Austausch jetzt nur noch über die Diensthandys. Netflix hat die Übertragungsqualität in Deutschland eingeschränkt, damit mehr Menschen besser und flüssiger von zu Hause arbeiten können. Auch Marcel, Torsten, Max, Tabea, Tobias, Greta und ich haben etwas von schnelleren Leitungen, wenn wir abends auf der Couch liegend eine Facetime-Konferenz abhalten und gemeinsam lachend Tabea oder Marcel beibringen, den besten Kamerawinkel für ein Gruppenselfie auf Entfernung hinzubekommen.

Lachen ist toll. Aber das Bedürfnis, Greta in den Arm zu nehmen und mir von ihr am Ohr kraulen zu lassen, kann das alles auch nicht ersetzen. Mein Oxytocin-Haushalt muss komplett im Keller sein. Natürlich habe ich jetzt auch Zeit Umzugskartons zu packen, die Steuererklärungsunterlagen zusammen zu suchen und Kinderbücher für mein Patenkind einzulesen. Zwischen dem Verpacken von Romanen von Dennis Stephan, Maupin oder Andreas Steinhöfel, sortiere ich also Kassenzettel aus dem Jahre 2019 zusammen und blättere in Janosch Büchern und überlege, welche Stimmlage die Henne oder der blinde Maulwurf haben könnten. Regelmäßig vergesse ich, dass ich nicht vor die Türe darf. Nämlich dann, wenn ich wieder einen Absatz von „O wie schön ist Panama“ eingelesen, oder weitere Bücher in Kisten verstaut habe. Aber dann, ganz unverhofft und scheinbar aus dem Nichts heraus ist das Gefühl, schon zu lange nicht mehr in den Arm genommen worden zu sein, wieder da. Ob nur wenige Sekunden, oder aber die ausreichende Zeitspanne für den Hormonhaushalt, spielt dabei keine Rolle. In den Arm genommen zu werden fühlt sich einfach gut an. Zu schnell vergisst man die einfachen Sachen, die sonst so verständlich waren. Eine flüchtige Berührung da, eine flotte Umarmung zur Begrüßung hier, das gemeinsame Einschlafen in Löffelchenstellung. Wie gerne würde ich gerade laut bis sieben zählen und dabei eine Person halten, die das gleiche Gefühl bei dieser Situation hat, wie ich. Nämlich das des Geborgenseins. Der körperlichen Nähe. Des Wohltuns der Freisetzung des Hormons Oxytocin.

Noch sieben Tage habe ich vor mir, an denen ich die Türe zu lassen und mit meinen Freund*innen nur durch Holz hindurch oder per Kameraschalte reden kann. Noch sieben Tage, in denen ich weiter im Homeoffice arbeiten, Kinderbücher einlesen, Umzugskisten packen, Nudeln kochen, Kakao löffeln, Liegestütze trainieren und die Oxytocin-Produktion so gering wie möglich aushalten muss. Aber so wie seit Tagen die Sonne scheint, wenn ich aus dem Fenster nach draußen schaue oder mich in der Küche durchs Fenster ihr entgegen strecke, so weiß ich auch, dass die Zeit der innigen Umarmungen, das Kuscheln mit Greta, das Einschlafen als kleiner Löffel, gar Lippen auf Lippen und ein schöner Kuss wieder kommen wird und mein Hormonhaushalt die chemischen Prozesse in meinem Körper gewohnt auf die richtigen turbulenten Bahnen bringen kann.

Denn am Ende ist es doch so, wie der von Mike so oft zitierte beste Schulleiter für Hexerei und Zauberei eins sagte: „Aber glaubt mir, dass man Glück und Zuversicht selbst in Zeiten der Dunkelheit zu finden vermag. Man darf nur nicht vergessen ein Licht leuchten zu lassen.“

andreas

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