Einsam und allein, allein

Ich fasse es nicht. Also ich fasse es schon. Es ist auch grundsätzlich natürlich gar kein Problem. Aber gerade denke ich, dass ich nicht richtig lese und es als Problem für mich empfinde. Dass die Nachricht auf Instagram ein Fehler ist. Ich weiß, dass ich übertreibe. Ich weiß, dass es keinerlei Grund gibt, sauer zu sein. Oder enttäuscht zu sein. Ich weiß, dass, wenn es anders wäre, es okay wäre. Aber es ist nun mal nicht anders. Es ist genauso, wie es gerade ist. Und deshalb fühlt es sich gerade einfach richtig schlimm an. Ich bin sauer. Und enttäuscht.
Ich lese die Nachricht von David ein drittes Mal:
„Wir sehen uns ja gleich. Marcel hat wegen Frühstücken beim Extrablatt geschrieben.“

Mir hat Marcel ganz sicher nicht geschrieben. Schon dreimal nicht wegen Frühstück. Genauso wenig, wie irgendjemand anders mir geschrieben hat. Weil alle auch was anderes zu tun haben. Und nicht an mich denken. Mickey Mouse ist in der Eifel. Matthias, der schon Zugtickets von Stuttgart nach Köln hatte, hat sich gar nicht mehr gemeldet. Nico ist im Arbeitsstress. Der andere David beim neuen Hanteltraining. Lina katert aus und Franzi wandert mir ihrem Papa irgendwo im Siebengebirge. Selbst Andi, mit dem ich heute verabredet war, hat unser gemeinsames Training und das Frühstück danach auf 30 Minuten runtergeschraubt, weil er noch eine wichtige Verabredung reinbekommen hat. Dabei müssten heute eigentlich alle Zeit haben, weil ich den Maiempfang absagen musste. 

Empfang absagen – das gab es (mit Ausnahme der Pandemie) noch nie. Und es schmerzt. Aber meine Wohnung hat einen riesigen Wasserschaden, alle Wände sind von Schimmel übersät und ich musste Hals über Kopf ausziehen. Niemand weiß, wie lange das alles dauern wird. Allerdings ist klar, dass ich die nächsten Monate nicht mehr in die Wohnung kann. Der Boden muss raus, die Fußbodenheizung auch. Der Estrich muss getrocknet und die Wände abgetragen werden. Eine Neubauwohnung wird sechs Monate nach Erstbezug quasi kernsaniert. Und ich mittendrin. Beziehungsweise weniger mittendrin als ausquartiert.
Und da bin ich nun auch seit einigen Tagen. In einer Gastwohnung meiner Genossenschaft. Irgendwo in Zollstock. Und die Einrichtung sieht aus wie aus dem Katalog des Möbel Brucker in der Eifel aus den späten 90er Jahren. Einzig das „Lebe. Liebe. Lache.“-Wandtattoo fehlt.

Ich fühle mich allein. Mein Kopf weiß, dass dem nicht so ist. Dass ich Menschen habe, die mich lieben. Freund*innen, Bekannte, eine Familie, ein tolles Patenkind. Aber mein Bauch kann das gerade alles nicht fassen. Es fühlt sich nicht danach an. Es fühlt sich an, als sei ich allein auf der Welt. Und noch schlimmer: Dass sich einer meiner besten Freunde heute noch mit einem anderen Freund trifft. Dessen neuen Freund kennen lernen darf und ich währenddessen nach dem kurzen Drink mit Andi allein im Starbucks sitzen und meinen aktuellen Krimi zu Ende lesen werde. 

Ich stecke mir meine Kopfhörer ins Ohr, öffne Spotify und während ich zur Bahnstation laufe, klicke ich mich wie wild durch die Interpret*innen, bis ich das Lied gefunden habe, nach dem mir gerade ist: Petula Clark mit Downtown.
„When you’re alone and life is making you lonley you can always go downtown.” klingt es nun in meinen Ohren, während ich in der Linie 12 Richtung Innenstadt sitze. 
Bin ich allein? Ist niemand da, der mich mag und sich bei mir meldet? Geht es nur mir so oder fühlen sich andere um mich herum auch manchmal so?
So komme ich nicht umhin mich zu fragen: bin ich wirklich allein oder gerade nur einsam?

Ich weiß, dass ich wirklich viele Menschen kenne und mich wiederum auch wirklich viele kennen. Ich bin bekannt dafür, dass ich Menschen vernetze, sie zusammenbringe. Daraus sind schon Beziehungen entstanden. Welche mit Liebe, welche, bei denen zusammengearbeitet wurde. Und welche, aus denen Freundschaften wuchsen. Ich freu mich immer, wenn ich sehe, dass Leute gemeinsam unterwegs sind, die sich durch mich kennen gelernt haben. So wäre es auch ganz sicher mit Marcel und David und seinem neuen Freund Marc geworden. Wenn nicht gerade alles zusammenkäme. Der abgesagte Empfang, der ruhige Feiertag, das Selfie von Franzi und Nico gestern Abend auf Insta, das verkürzte Treffen mit Andi, die seltsam eingerichtete Gastwohnung, eine sich bereits leicht ankündigende Erkältung. Das Leben kann einen vor Herausforderungen stellen, bei denen das Gefühl in einem ausgelöst wird, dass man das nun alles allein schaffen muss. Dass man dasteht, ohne, dass einem jemand den Rücken stärkt. Und dann spielen die Hormone in einem verrückt und machen alles nur noch schlimmer. 

Dabei bin ich wirklich gut im Alleinsein. Ich mag es, wenn ich mal einen freien Abend habe, zu Hause auf meinem Sofa zu sitzen, mich von Pianomusik beschallen zu lassen und dabei ein gutes Buch zu lesen. Einfach mal mit mir und der Situation sein. Darin bin ich gut. Und das genieße ich auch. Ich war allein auf Weltreise, ich gehe allein ins Gym und selbst das Team- Ding mit der schwulen Beratung mache ich viel lieber alleine. Aber es gibt nun mal einen Unterschied zwischen alleine sein und sich einsam fühlen. Studien zeigen, dass zum Beispiel die Kreativität steigt, wenn man sich Zeit für sich nimmt. Studien zeigen aber auch, dass Menschen, die sich einsam fühlen, gesundheitliche Folgen davontragen können. Und dabei spielt es keine Rolle, ob Menschen inmitten von hunderten stehen, täglich mit zahlreichen anderen arbeiten oder ein volles Kontaktbuch haben. Das Gefühl kann dennoch da sein.

Ich schnappe mir mein iPhone, öffne Insta und anstatt David zu fragen, ob ich nicht auch zum Frühstück kommen kann, oder einfach Marcel anrufe, schreibe ich einfach nur „Guten Hunger“. Es dauert auch nicht lange, da erhalte ich von David ein Doppeltaps und ein Herz auf meine Nachricht. Na danke. Und während ich zum Sport laufe, sehe ich sogar, dass Marcel gerade erst aus einer anderen Richtung ins Gym geht. Dass er anschließend oben noch mit Andi quatscht und dann in die Umkleide geht. Ich lasse mir extra viel Zeit um den gleichen Weg zurück zu legen und mache mit Andi aus, dass wir uns in 15 Minuten auf unseren kurzen Drink treffen. 

In der Zeit, in der das heiße Wasser der Dusche wesentlich länger über mich läuft als sonst, denke ich daran, dass ich nachher vielleicht doch mal Marie, Max, Mike, der Mickey Mouse oder Frauke schreiben könnte. Ich könnte ihnen sagen, dass ich mich einsam fühle und gern etwas mit ihnen machen würde. Schließlich kann niemand meine Gedanken lesen und wissen, wie ich mich fühle, wenn ich es nicht sage. Ich bin mir sogar sicher, dass mir schon ein Telefonat reichen würde, um mich aus meiner Stimmung rauszuholen. Aber weder die überaus ausgiebige heiße Dusche, noch die kurze eiskalte im Anschluss spülen das dunkle Gefühl weg. Und obwohl ich mich auf einen geilen Kuchen aus einem der umliegenden Cafés gefreut habe, stimme ich natürlich zu, als Andi mich darum bittet, dass wir zum Extrablatt um die Ecke beim Gym gehen. Weil er von da aus schneller zu seinem Termin kommt. Ich laufe also mit mieser Laune neben Andi den kurzen Weg zum Café und schicke dabei ein Stoßgebet gen Himmel, dass Marcel sich mit David und Marc das Extrablatt vor seiner Wohnung ausgesucht hat. Ich habe weder Lust den Dreien jetzt über die Füße zu laufen, noch wie ein verrückter Stalker aus einer Netflix-Serie zu wirken, der mal eben alle Extrablatt-Cafés in Köln abläuft, um das schöne, geplante Frühstück zu crashen. 

Und in dem Moment, in dem wir das Extrablatt betreten denk ich noch, dass es nicht wahr sein darf. Dass nun wirklich David mit Marc und Marcel an dem großen Tisch gleich im Eingangsbereich sitzen. 
Ich will umdrehen, wegrennen, mich meinem Alleinsein und der Einsamkeit hingeben. Ich muss aussehen, wie ein aufgeschrecktes Reh. Und dann schaue ich den Tisch entlang. Und sehe neben den Dreien noch Lina. Und David. Und Nico, Franzi, Matthias. Ich sehe alle. Alle meine Freund*innen, die ich in den letzten Stunden so sehnlichst vermisst habe. Alle meine Freund*innen, denen meine Hormone und meine Gefühle nachgesagt haben, dass sie mich nicht gern und keine Zeit für mich haben. Mir schießen die Tränen in die Augen. Ich stehe hier, in einer Café-Kette, in Jogginghose, Hoody und Cap, heule wie ein Wasserfall und schaue in die Augen der Menschen, die mich lieben. Die sich heimlich für heute, für mich, in einer WhatsApp-Gruppe verabredet haben, mir ein Ausweichprogramm auf die Beine gestellt haben, damit ich mich heute am Tag des abgesagten Empfangs und mit einer von Schimmel übersäten Wohnung nicht allein und einsam fühle. Die mir auch ganz sicher schon früher etwas gesagt hätten, wäre ich nur bereit gewesen über meinen Schatten oder den Schatten in mir zu springen und zu sagen, wie es mir geht.

Und während ich erstmal Marc, den ich gerade erst kennen lernen darf, erklären muss, dass ich weniger der Typ bin, der sonst einfach direkt losheult und während ich anschließend alle meine Leute nacheinander in die Arme schließe, ist dieses miese Gefühl der Einsamkeit erst einmal wieder weit, weit weg.

Denn am Ende ist es doch so: Glück und Unglück liegen manchmal nur einen Augenschlag – oder eine geheime WhatsApp-Gruppe – voneinander entfernt.

andreas

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