Goodbye Ehrenfeld – eine Ära geht zu Ende…

„Kannst Du die Kommode für 10€ mehr auch nach Bayenthal liefern? Dann nehm’ ich auch die kleine zusätzlich!“

„Natürlich gern. Ich spann mir die Möbel auf den Rücken und komm mit dem Rennrad rum!“

Ich kratz’ mich am Kopf. Darüber, dass die Geste auch passend zu meiner Antwort ist, werde ich mir erst bewusst, als ich den Antwortbutton bei ebay-Kleinanzeigen drücke. Ich sitze in der Innenstadt in der neuen Wohnung, warte auf die Möbellieferant*innen und versuche nebenher meine alten Möbel für wenig Geld im Internet los zu werden. In wenigen Stunden ist es soweit und ich ziehe um. Ja. Ich ziehe um. Ich glaube es selbst noch nicht wirklich. Nach gut 10 Jahren werde ich die Helmholtzstraße 88 in Ehrenfeld verlassen.  

10 Jahre in denen die Wohnung – aber besonders ich – einiges erlebt haben. Ganze 17 (in Worten: siebzehn!) Mitbewohnerinnen und Mitbewohner haben sich mit mir die große Küche, das alte Bad, den – gefühlt kilometerlangen – Flur und das eher schlechte WLAN geteilt. Manche davon wenige Wochen, andere einige Jahre und eine meiner Mitbewohnerinnen – Veronika – kam sogar ein zweites Mal wieder. Ich habe in der Zeit mein Abi gemacht, eine wechselnde Gruppe von – mal mehr, mal weniger – kochinteressierten homosexuellen Jungs und Männern  beherbergt, für ein Jahr die Welt bereist, in einem Familienbetrieb ein komplettes Hotel kennen gelernt; mein Studium begonnen und den Bachelor in der Zeit sogar abgeschlossen. Außerdem über 100 Gästen eine Schlafcouch bezogen, Stadtpläne bemalt, Schokolade auf die Kissen gelegt oder über das Jahr verteilt mehrere Empfänge mit Buffet ausgerichtet. Ich führte stundenlange Gespräche über den nichtgemachten Abwasch, beendete in meinem Zimmer – mal unter Tränen, mal sehr befreiend – Beziehungen zu Männern, passte auf Hunde auf und schaute nackt – aber auch angezogen – hunderte von Tatorten. Die riesigen, eiskalten, beigen Fliesen aus den 60er Jahren mit ihren massenhaften Rissen und Löchern hätten einiges zu erzählen, über die Geschichten und Personen, welche schon alle in dieser Wohnung waren. Die Wohnung – so wie ich – sah Menschen kommen und gehen. Manche davon blieben kurz, manche länger, mache machten eine kurze Pause, manche kamen und wurden danach nie wieder gesehen, manche hatten leider nicht mehr die Möglichkeit wieder zu kommen und andere blieben und bleiben bis jetzt. Und nun? Ich geh’ nun einfach? Zieh’ die Türe zu und gut ist? Verlasse Ehrenfeld für die Innenstadt? Ist das möglich? Geht die erste gemeinsame Wohnung mit meinem Partner gut? Nach all den Überlegungen komme ich also nicht umhin mich zu fragen: War es die richtige Entscheidung die Wohnung zu kündigen und umzuziehen?

Flo und ich sprachen schon recht früh zu Beginn unserer Beziehung allgemein über das Zusammenziehen. So vehement, wie er dafür, war ich vehement dagegen. Immer habe ich daran festgehalten, dass mich aus meiner Wohnung – dank günstiger Miete und toller Lage – nie jemand raus bekäme. Auf jeden Fall nicht so lange ich in Köln leben würde und mich noch in der Aus- bzw. Weiterbildung befände. Und dann kam es, wie es kommen musste. Unsere Leben entwickelten sich rasant und im Frühjahr war das Thema ‚Zusammenziehen’ durch verschiedene Lebenssituationen wieder auf dem Tisch. Ich hatte gerade erst meinen lieben Freund Andreas in die Wohnung einziehen lassen, als klar war, dass Florians WG sich in den nächsten Monaten auflösen würde und er mich fragte, ob wir nicht zusammen ziehen wollen. Es war die Zeit, in der wir in Deutschland, obwohl die Bundestagswahlen Monate zurück lagen, noch immer keine Regierung hatten. Es war die Zeit, in der Hannes, einer meiner besten Freunde, auf meiner Couch schlief und für einige Wochen zu meinem dritten Mitbewohner wurde. Es war die Zeit, in der ich mich auf ein politisches Praktikum beworben hatte und mich auf das Vorstellungsgespräch vorbereitete. Und es war die Zeit, in der Florian und ich nun gemeinsam in unsere ganz persönlichen Koalitionsverhandlungen gingen. Die nächsten vier Wochen zogen ins Land während denen wir uns regelmäßig gegenseitig unsere Kompromisse mitteilten. Genauso regelmäßig nahmen wir uns jeweils die Zeit über die Vorschläge des anderen nachzudenken. Welches Für und welches Wider gab es für die gemeinsame Übernahme der WG-Wohnung in der Innenstadt? Was würde mein Andreas sagen, der erst vor einigen Monaten eingezogen war? Und überhaupt: Wer bekäme in der 4-Zimmerwohnung welches Schlafzimmer? So zogen die Tage ins Land in denen ich mir viele Gedanken machte. Über mich. Über mein Leben. Und besonders darüber, wo mich gerade befand. 

Da war ich. Fertig mit dem Bachelorstudium. Deutschlands erste quantitative Studie zum Thema Sexting. Eine 50% Projektmanager-Stelle im Public Engagement Bereich für Diversity-Themen. Als Masterstudent mit dem Schwerpunkt Medienpsychologie an der Uni Köln. Und eine Jobzusage vom WDR als freier Journalist für Social Media Themen für die ARD. Und das ganze steuerte und erlebte ich aus meinem Jugendzimmer in der WG, in der ich vor gut zehn Jahren eingezogen war, um mein Abi zu machen. Es war, nein es ist also an der Zeit, weiter zu gehen. Sich und uns zu verändern. Und auch die in meinem Freunden- und Bekanntenkreis viel diskutierte Tatsache, dass wir in der Wohnung getrennte Schlafzimmer haben werden, gibt mir das Gefühl, mich in die richtige Richtung zu entwickeln. ‚Toll’, sagen Chris und Chris aus Hamburg; ‚strange’ meint Sam; ‚perfekt, wenn jemand krank ist’ unterstützt Anne. Genau das richtige für uns, meinen Flo und ich. Ich freu mich schon jetzt auf Date-Nights, wenn wir jeden Abend aufs neue entscheiden können, bei wem wir heute schlafen werden. Ich freu mich schon jetzt auf die Möglichkeit, einen Raum nur so einrichten zu können, wie ich mir das immer vorgestellt habe – so ganz ohne einen Kompromiss. Und ich freue mich darauf, dass jeder einen Raum für sich haben kann, fernab von frühen Weckern, Viren in Krankheitsfällen oder Schnarchattacken nach durchzechten Nächten.

Bin ich dennoch nervös, während ich hier auf die letzte Möbellieferung warte und weiß, dass ich ab morgen in einer neuen Wohnung leben werde? Ja natürlich. Veränderungen bringen neue Herausforderungen. Ungewissheiten, gleichzeitig auch neue Abenteuer. 

David wird nicht mehr in meiner Nachbarschaft wohnen, braucht glücklicherweise aber weniger als 30 Minuten zu meiner neuen Wohnung, Mike wird auf Sushi statt Bio-Cola auch gern direkt in mein neues Veedel kommen. Mein Kinderzimmer in der Eifel ist entmistet, alle Kartons in meinem Jugendzimmer in Ehrenfeld gepackt. Ich weiß, dass all’ meine Sneaks irgendwie in die neue Wohnung passen und Ömchen verabschiedete mich vorgestern am frühen Morgen mit den Worten ‚Liebe Jung, Dich werde ich nie vergessen!’ Und während ich gerade eine Whatsapp von Flo bekomme, in der steht: ‚Freu mich auf unsere Wohnung! Das wird toll <3’, weiß ich, dass es genau die richtige Entscheidung war.

Denn am Ende ist es doch so, dass wir nicht wüssten, wo wir hinkämen, wenn alle nur davon sprächen, zu gehen, aber niemand wirklich ginge.

andreas

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