Tagesprophet-Eilmeldung „Zaubereiministerium meldet: Alle Zeitumkehrer zerstört“

„Al… isch lag jetzt nich au… der Couch und hab nix gemacht. So meint… ich da… auch nicht.“ Ich schlucke den großen Batzen Reis, Gemüse und Huhn in Erdnuss-Curry-Soße runter, lege meine Stäbchen zur Seite und rechtfertige mich gerade vor Max, warum ich gestern ausnahmsweise nicht ein zweites Mal im Gym war.
„Und selbst wenn? Wo wäre das Problem?“

Ich habe Max vor zwei Wochen gefragt, ob wir es heute schaffen zwischen 12 und 13 Uhr in der Nähe meiner Wohnung gemeinsam Mittag zu essen. Zwischen Sport, Arbeit im Homeoffice inklusive Urlaubsvertretung, Haushalt schmeißen, Familienangelegenheiten regeln, Einladungen für den kommenden Herbstempfang designen und schreiben und noch mehr Arbeit im WDR oder vor Ort im Office in Ehrenfeld, ist es mir nämlich wichtig, auch noch meine Freund:innen zu sehen. Max hat schon vor zwei Wochen gesagt, dass er kann, sich freut und gerne zum Thai-Imbiss um die Ecke kommen würde. Nun sitzen wir hier, bei 38° C unter einem winzigen Sonnenschirm an einem noch kleineren, sehr klebrigen Tisch und essen C51 und B19, extra scharf. 
„Ich mein, Andreas, welchen Generationen gehören Du und ich an, dass es nicht mal okay ist, zu sagen, dass wir gerade mal nichts zu tun haben und auch gestern Abend einfach mal auf der Couch gelegen haben?“

Ich komme zum Nachdenken. Reiht sich Max‘ Frage doch in die Reihe einiger Aussagen ein, die ich in letzter Zeit von Freunden bekomme, die ich mit Lina auf dem Balkon zur Abendsonne diskutiert oder die ich einige Male von Marita per WhatsApp erhalten habe? Mit welchem Tempo führe ich eigentlich mein Leben? Brauche ich zwei Jobs? Ein Ehrenamt? Vier bis fünf Empfänge im Jahr? Eine enge Bindung zu meinem Patenkind? Ein gutes Familien-Klima? Zahlreiche Freund:innen? 
So komme ich nicht umhin mich zu fragen: Gibt es zu wenig Zeit für zu viele soziale Verpflichtungen?

Ein Freund sagte mir zuletzt, er würde denken, ich hätte zu wenig Zeit für meine ganzen Leute. Marita fragt mich regelmäßig, wann sie ein Praktikum bei mir machen könnte, um das Zeitmanagement zu erlernen. Schmittchen will oft wissen, woher ich die Power habe in Doppeljob-Wochen noch zum Sport zu gehen und David klopft regelmäßig auf meine Brust und sagt dabei: Du und Dein Zeitumkehrer. Hermine schafft es in der Potter-Welt im dritten Schuljahr wirklich alle angebotenen Kurse zu besuchen, weil sie wegen eines Zeitumkehreres alle Schulstunden doppelt bis dreifach erleben kann. Ich für meinen Teil trage eine Nachbildung davon als eine Art Talisman mit mir rum. Damit in der Tasche und mit 5 Stunden Schlaf täglich habe ich bis dato in meinen jungen Lebensjahren einiges geschafft.

Aber auch neben all den Dingen, mit denen ich mich zuletzt in diesem sehr seltsamen 2020 recht wacker – wie ich finde – rumschlagen musste, habe ich Fehler gemacht. Fehler, die meinem Terminkalender geschuldet passiert sind. Ich habe Freunde vor der Kopf gestoßen, enttäuscht und mich dafür selbst am meisten kritisiert. Mit der Überlegung, ob ich überhaupt ein guter Freund bin, oder nicht. Ich habe in Frage gestellt, ob ich dem Anspruch, den ich an Freundschaft habe, selbst gerecht werden kann. Mike hat erst gestern auf meiner Couch sitzend, während ich noch drei Nachrichten beantwortet und kurz darauf den nächsten Termin gesucht habe, an dem wir zu unserem Lieblingsherrenausstatter gehen, gesagt, er hätte vorher gewusst, dass er sich mit mir einen Freund ausgesucht hätte, der nach unserer Kanzlerin den vollsten Terminkalender in Deutschland hat und dann mit seiner Fritzz Limo an meine Coke Zero angestoßen. Die Leute wissen also, worauf sie sich bei mir einlassen. Marcel gibt mir seinen Reisekalender frei, damit ich weiß, welche Wochenenden er in Köln ist und ich somit besser planen kann. Dennoch schaffe ich es innerhalb von 30 Minuten spontan für Mers durch die Stadt zu radeln, Rezepte zu besorgen und auszuliefern. Ich springe auf mein Bike, in den Zug oder besorg mir ein Auto, wenn jemand wirklich etwas von mir braucht und mich um Hilfe bittet – dann bin ich da. Denn dafür nehme ich mir Zeit – immer. Im Zweifel komm ich nämlich auch mit 3 Stunden Schlaf klar.

Ich schaue Max an und lächle: „Mister, bei Dir ist doch auch einiges los. Du hast Deine Masterarbeit geschrieben, einen Umzug vorbereitet, steigst nun als Partner in eine eigene Firma ein und nicht zu vergessen, Du wirst bald Papa. Ich werd‘ verrückt!“ 
Ich greife zu meinen Stäbchen und nehme den nächsten Bissen C51. Auch, wenn im fünften Potter-Schuljahr alle Zeitumkehrer im Zaubereiministerium zerstört werden, kommt es mir manchmal vor, als hätte ich das Ding um meinen Hals doch nicht nur als Talisman. Mir ist warm und ich weiß, dass ich in 27 Minuten den nächsten Call haben werde, wonach ich in ein Meeting zu einer anderen Hochschule muss, heute Abend noch einmal über einen Witwenrentenantrag lesen werde, bevor ich mit Marcel, David und Benedikt gegen die Zeit spannende Rätsel löse. Und deshalb freue ich mich nun umso über Max‘ Worte zum Abschied: „Toll, dass wir uns die Zeit genommen und es geschafft haben, uns wieder mal zu sehen.“ Ich lächle, mir wird noch wärmer und trotz Schweiß, nassem Tank-Top und klebriger Haut nehme ich Max fest in den Arm. 

Denn am Ende ist es doch so: Das Leben nimmt uns Zeit. Wofür auch immer. Und das Beste, was wir tun können, ist sie für Dinge einzusetzen, die wir lieben.

andreas

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