„Auf ner schönen grünen Wiese liegt ein großer grauer Berg streckt die Beine in den Himmel neben ihm da steht ein Zwerg! Nein der Zwerg das ist ja –“
Ich zucke am ganzen Körper und schrecke hoch; sitze ein paar Sekunden später kerzengerade im Bett. Vorhin hatte ich mir doch erst eine Folge Benjamin Blümchen ausgesucht, sie auf den Lautsprecher im Schlafzimmer gestellt und das iPhone im Nachtmodus zum Laden auf meinen Nachtschrank gelegt. Und jetzt kreisen in meinem Kopf Gedanken, was noch alles so ansteht. Doppeljob-Wochen heißen noch einmal weniger Schlaf. Bis spät abends noch einmal die Nachrichtenlage und das Geschehen im Netz checken, schlafen und dann morgens früh raus und dann ab in den Sender. Eine gute, tagesaktuelle und informative Sendung machen, die nächste vorbereiten und dann ab ins Homeoffice und die Rolle des Journalisten gegen die des Managers für Kommunikation & Marketing tauschen. Nach Feierabend dann wieder das Netz durchforsten, vielleicht noch etwas für die anstehende Masterarbeit an der Uni lesen oder einen Vortrag zu meiner Forschung halten oder Übungen für das Sprechtraining machen.
Gestern erst sollte ich meinem neuen Chef an der Uni meinen Lebenslauf erklären und erzählen, was ich gemacht habe, bis ich Anfang 2020 die Stelle in Kommunikation & Marketing an der Uni angetreten habe. Ich habe kurz innegehalten und ihm gesagt, dass ich einen Benjamin-Blümchen-Lebenslauf und wirklich schon eine Menge Kram in meinem Leben gemacht hätte. Er musste lachen. Ich wiederum musste an all die Jobs und Stellen denken, die ich seit meiner Kindheit gemacht hatte, um Geld zu verdienen. Anfänglich um mein Taschengeld aufzubessern, dann um zu lernen auf eigenen Beinen zu stehen, um anschließend mein Leben schnellstmöglich allein zu finanzieren. Benjamin Blümchen rutscht in jeder seiner Hörspielfolgen meist durch einen lustigen Zufall in die verschiedenen Berufe, die er dann mal besser, mal schlechter ausführt. Genauso wie ich mein ganzes Leben auch schon. Noch nie habe ich mich auf normalem Wege auf eine Stelle beworben. Am Ende einer Hörspielfolge erledigt Benjamin aber immer alle Berufe und die damit einhergehenden Herausforderungen zur Zufriedenheit aller und mit einer großen Lernkurve.
Michas Lieblingsfolge ist „als Gärtner“ – und dennoch zählt sie nun nicht die Frösche im Garten des Nachbarn sondern konzentriert sich nach der Arbeit im Krankenhaus ganz und gar auf die Geburt ihres Kindes; Mitch feiert die Folge, in der Benjamin „als Wetterelefant“ stadtbekannt wird – und dennoch rettet er nun für Geld die Walbestände und sitzt nicht auf den Domspitzen um das Wetter anzusagen; Matthias findet es wegen der Toilettensituation am besten, wenn Benjamin „im Krankenhaus“ ist – und dennoch verdient er nun als bekannter Radiomoderator sein Geld und bricht sich nicht beim Rüsselstand den Rüssel.
Und ich? Ich könnte eine Reihe spannender Folgen in meinem Leben produziert haben. Schon als Kind wäre ich in „Andreas als Gärtner“ in der ganzen Nachbarschaft bekannt gewesen, weil ich den Rasen der alten Damen in meiner Straße immer hervorragend auf die perfekte Länge stutze. Außerdem wäre die Folge mit „Andreas als Aufsicht beim Kinder-Go-Kart“ nicht mit glitschigen Bananenschalen auf der Strecke geendet, sondern mit der Zahl 6. So viele Runden musste ich zählen, bevor einer der Kinder wieder aus dem Go-Kart aussteigen und dem nächsten Platz machen musste. Aber auch „Andreas als Animateur“ wäre sicher ein Highlight in meiner Jugend geworden: Ich habe nicht nur niederländisch gelernt, mir Eier beim Kindertheater auf dem Kopf zerschlagen lassen oder nach Renates streng anerzogenen Volleyball-Regeln in der Ferienpark-eigenen Sporthalle pfeifen müssen. Ich konnte auch schon in meiner Jugend viel über mich lernen. 5€ pro Stunde habe ich damals an einem 12-14 Stunden Tag verdient und musste – für den Fall der Fälle – immer sagen, ich sei bereits 16 Jahre. Nach „Andreas als Jugendgruppenleiter“ über „Andreas als Heizölfahrer“ oder „Andreas als Sportfachverkäufer“ bis hin zu „Andreas als Teamchef“ kam der Break in meinem so runden Lebenslauf. Ich kündigte meinen Job, verließ meine Wohnung in Leipzig, zog zurück in mein Kinderzimmer und überlegte, was ich wirklich vom Leben und meiner beruflichen Zukunft wollte.
Was wollte ich? Sollte ich mein Kindheitshobby, das Schreiben, zum Beruf machen? Auf Marita hören, die immer sagte, ich sollte was Kreatives machen und sei beim Kaufhof verloren? Doch alles dafür tun, dass ich Medizin studieren und Kinder heilen könnte? Bin ich jetzt, nachdem ich mein Abi nachgeholt, Medien studiert und noch einige andere Jobs hatte da, wo ich hinwill?
So komme ich nicht umhin mich zu fragen: Was muss man alles gemacht haben bis man weiß, was man wirklich will?
Bis ich also nun in Zoom-Meetings sitze und mit meinem neuen Chef darüber spreche, dass ich grundsätzlich gern seine Stelle gehabt hätte und was ich in den nächsten Monaten von der Arbeit und meiner Entwicklung erwarte, war es ein langer und manchmal steiniger Weg. Es wären zahlreiche neue Hörspielfolgen in dieser Zeit entstanden: „Andreas als Barkeeper“, „Andreas als Hotelier“, die Sonderfolgen „Andrew as a barista“, „Andrew as a builder” oder “Andrew as a burger chef” bis hin zu „Andreas als Ginexperte“. Und in allen Jobs habe ich neben Kaffeekunst, Zapfexpertise, Organisation oder Zeitmanagement weiterhin viel über Zusammenarbeit im Team, Führungsstile und ganz besonders über mich gelernt. Ich habe gelernt, was ich kann und was ich nicht kann, was ich kann und mag und auch was ich kann, aber nicht mag. Und nun kann ich mir Gedanken machen, wohin ich beruflich möchte, wenn ich meinen Master-Abschluss bald oder weniger bald mache, meine Weiterbildungen abgeschlossen habe und mit meinem Sprech- und Moderationstraining am Ende angekommen bin. Ich kann überlegen, in welche Richtung ich mich beruflich entwickle oder ob ich die zwei unterschiedlichen Laufbahnen weiterverfolgen will. Oder ob ich doch mit Marie, Max und Mike die Praxis eröffne. Oder mit Lina eine Auszeit nehme und um die Welt reise – wieder einmal. Oder ob ich nun wirklich Anfange mein Buch zu schreiben, zu dem ich schon so viele Personen, Orte und Geschichten im Kopf habe, dass sich das Ganze langsam so richtig richtig anfühlt.
Ich könnte eine lange Hörspielserie in meinem Leben produziert haben, die manche mehr und manche weniger interessieren würde. Ich könnte Benjamin Blümchen Konkurrenz in der Berufswahl machen. Ich könnte vieles über viele Berufe sagen. Noch mehr könnte ich nun über mich sagen. Ich war und bin Generalist, nie Spezialist. Ich konnte und kann viele Dinge gut, in keinem bin ich wirklich überaus herausragend. Und vielleicht bin ich noch nicht da angekommen, wo ich wirklich hinwill. Aber der Weg hat mir bis dato einiges beigebracht, mit dem ich wirklich glücklich bin.
Denn am Ende ist es doch so: Es ist gut zu wissen, was man möchte, aber noch besser ist es zu wissen, was man nicht möchte.