„Du kennst echt jeden.“
Ich schaue verdutzt von der Karte, die ich gerade unterschreibe, in Marcels Gesicht auf. Er grinst. Alle Jahre wieder sitze ich mit meinen engsten Freunden zusammen, die mir fleißig dabei helfen, über 120 Weihnachtskarten richtig zu sortieren, zu verpacken und zu frankieren. Jedes Mal wird dann natürlich auch über die Leute gesprochen, an die ich eine Karte verschicke. Ich nehme dieses Ritual zur Gelegenheit das Jahr für mich Revue passieren zu lassen und über so manche Situationen, Geschichten und Personen nachzudenken.
2016. Ganz okay, sagen die einen, ganz schrecklich, die anderen. Manche schreien, die Politik sei an all dem Schuld, wiederum andere sagen, dass sich Himmel und Erde aktuell sehr nahe kommen und es deshalb besondere Reibungen gäbe. Wenn ich an das Jahr zurück denke, dann denke ich an Menschen. An ganz viele Menschen. Menschen, die ich liebe. Menschen, die ich liebte. Menschen, die ich mochte und solche, die ich weniger mochte. Menschen, die ich traf, kennen lernen oder wieder finden dürfte. Menschen, die ich am liebsten nicht hätte gehen lassen wollen, aber die ich gehen lassen musste. Menschen, die mein Jahr zu dem machten, was es nun, kurz vor dem Wechsel zu 2017, auch war. Gewesen war. Oder einfach ist.
Menschen, denen ich nun, während ich mit Marcel in meiner Küche sitze, zwischen Umschlägen, Kugelschreibern, einem Stapel Karten, Geschenken und dem Drucker, gedenke. Jemand hat mal zu mir gesagt, ich würde die Karten nur so zahlreich schreiben, weil ich im kommenden Jahr irgendetwas von der Person bekommen wollen würde. Einschleimen auf Kredit also. Ist das so? Bin ich jemand, der voller Kalkül damit plant, wem ich was schreiben muss, damit ich im darauf folgenden Jahr einen Gästelistenplatz auf einer Party, ein Bett zur Wiesn in München oder einen schnelleren Arzttermin im Krankenhaus erhalte?
Ich komme also nicht umhin mich zu fragen: Wo sind die netten Gedanken an andere Menschen hin?
Seitdem ich in Köln wohne habe ich zwei Häuser weiter im Erdgeschoss diese nette alte Dame wohnen, von der ich bis heute nicht den Namen kenne. Sie nennt mich immer „Der liebe Jung“ und ich sie, wenn ich über sie spreche, „Ömchen“. Sie war sicher schon alt, als die Häuser, in denen wir wohnen, gebaut wurden. Sie ist eine von den alten Damen, von denen man denkt, dass sie schon alt auf die Welt gekommen sind. Oder in einem anderem Leben einmal jung gewesen sind. Oft sitzt sie an ihrem Tisch, streichelt dabei ihren Hund, der auf der Fensterbank sitzt und schaut sich die Leute auf der Straße an. Immer, wenn ich, oder auch jemand meiner Leute, an ihr vorbei geht, winken wir. Spätestens dann lächelt sie. Diesen Sommer dann sprach sie mich an, ob alles okay bei mir sei. Sie hätte mich in den letzten Wochen beobachtet und denke, dass da irgendetwas los sei. Ömschen, dachte ich dann, hat ihre Augen überall. Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht ihr regelmäßig etwas auf ihre Fensterbank zu stellen. In genau den gleichen regelmäßigen Abständen pflaumt sie mich in einer so freundlichen Weise an, dass ich das doch nicht tun solle, weil sie mir all das nicht zurück geben könne. Vor wenigen Tagen, als ich ihr eine Auswahl an selbstgebackenen Plätzchen auf die Fensterbank legte, ging das Fenster umgehend auf und schon wieder erhob sie ihre alte, zittrig und faltige Hand mit dem Zeigefinger. Ich unterbrach sie direkt und sagte: ‚Ein lächeln reicht mir als Dank.’, grinste, drehte mich um und ging mit einem Lächeln auf den Lippen wieder heim.
Gerade oder vor allen in diesem Jahr überlege ich, wohin uns ein wenig mehr Wertschätzung zu anderen Leuten wohl bringen würde. Es ist so einfach. Vielleicht beginnt das ganze auch schon bei der Sprache? Ist es nicht so, dass Sprache Realität schafft? Ist es deshalb vielleicht schon zu viel, wenn in einer Clique nach durchzechter Partynacht am nächsten Morgen über einen der Partygäste, der in der Gruppe unter allen mal mehr, mal weniger Bekannt ist, eine richtige Hetze in der Whatsapp Gruppe ausbricht? Ist es angebracht als Hausverwalter einen Zettel, der versucht, ein Treffen unter allen noch unbekannten Hausbewohnern zu organisieren und dabei natürlich im Hausflur hängen muss, unter Berufung des Mietvertrages umgehend abhängen zu lassen? Wieso sind Menschen, wie sie sind?
Ich klappe eine Karte zu, atme tief durch und gebe sie Marcel mit dem Wissen, dass all die Karten sicher kein Kalkül von mir sind. Denn dieses Jahr liegen mir meine Karten besonders am Herzen. Nicht, dass sie es die Jahre davor nicht auch taten. Aber für mich war es ein langes und ereignisreiches Jahr. Für das es sich bei vielen Leuten zu bedanken gibt. Für das So und das Da sein.
Also, strafft die Röcke, zieht die Schlüpper stramm. Gedenkt. Sagt Danke. Seid nett. Schätzt wert.
Denn am Ende ist es doch so: Der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen ist ein Lächeln.