Ich muss nix – außer sterben!

„Ich muss heute Abend doch schwarz tragen!“ Ich stehe in meinem Kinderzimmer. Trage selbst nur eine blaue Short, weiße Socken und ein bordeauxrotes Tanktop und schaue in die glasigen Augen meiner Mutter. Sie steht vor dem offenen, großen Holzschrank, der vor mehr als 20 Jahren im Möbelgeschäft im Nachbarort gekauft wurde, top modern war und nun jedes zweite Schlafzimmer in der Eifel schmückt. Ihre Haut ist aschfahl. Ihr Gesicht eingefallen. Die Schultern hängen schlaff herunter. Die Stimme brüchig. Bis zur Totenwache sind es noch zehn Stunden.

Vor vier Tagen kam ich vom Wochenend-Workout heim, hatte meine Sporttasche in die Ecke geworfen und wollte mir gerade einen Eiweiß-Shake mixen, als meine Schwägerin anrief. Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Am anderen Ende der Leitung war Tabea. Aufgelöst. Fast panisch. Nicht komplett zu verstehen. Ich hatte die Situation innerhalb von Millisekunden registriert und noch im Gespräch Ausweis, Handyladekabel, Mund-Nasen-Bedeckung und Jacke zusammengesucht. Die Wohnungstür zog ich in dem Moment hinter mir zu, in dem ich Tabea sagte, dass ich in 50 Minuten in der Eifel und somit in meinem Elternhaus sei. So ruhig, konzentriert und straight ich in Krisensituationen äußerlich bin, so unruhig, unkonzentriert und verrückt kann ich gleichzeitig innerlich sein. Die Zeit, die ich auf Falks Beifahrersitz saß, der mit 200 km/h die A1 Richtung Südwesten runterschoss, malte ich mir alle möglichen Szenarien aus. Max versuchte mich mit Nachrichten zu beruhigen. David und Mers hielt ich mit Sprachnachrichten auf dem Laufenden. Ich lauschte dem Summen der Reifen auf dem Autobahnasphalt. Zählte die Pöller an der Seite der Autobahn, die nur so an meinem Auge vorbeischossen. Spürte jeden Hubbel, den wir fast überflogen. In meinem Heimatdorf angekommen, schickte uns das Navigationssystem einen Weg entlang, den ich niemals genommen hätte und somit kam ich auf einem ganz anderen Weg zu dem Haus, in dem ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Und schon von weitem spiegelte sich das blaue, rotierende Licht der Rettungswagen im weißen Lack des Wagens, der mich in die Eifel gebracht hatte. Bereits als ich die Einfahrt zum Haus hochging und dann die 4 Stufen nahm, meinen Bruder und seine Frau sah, wusste ich, welches meiner möglichen durchdachten Szenarien zur Wahrheit geworden war. Meine Mutter und meine andere Schwägerin fand ich in der Küche. Mein Vater war tot.

Und nun, vier Tage danach, stehe ich mit meiner Mutter also in meinem Jugendzimmer und überlege, welches Outfit für die Totenwache heute Abend getragen werden muss. Muss. Ein hartes Wort, das ich in den letzten 96 Stunden so oft gehört habe, wie in ganz 2020 mit allen vorgeschrieben Covid-19-Maßnahmen nicht. Muss eine Messe gehalten werden, oder reicht eine Totenwache? Muss schriftlich bis ins Detail festgehalten werden, welche Bestattung nach Ableben durchgeführt werden soll? Muss in der Todesanzeige ein 0-8-15 Zitat stehen? Muss gleich am Todestag jede*r angerufen und informiert werden, der*die vom Tod meines Vaters erfahren sollte? Muss Bier in fünffacher Menge kalt stehen, wenn am zweiten Tag die Nachbarschaft zum kondolieren kommen wird? Was müssen wir überhaupt? So komme ich also grundsätzlich nicht umhin mich zu fragen: Muss wirklich das, was muss?

Die letzten Tage habe ich damit verbracht, mit dem Bestatter zu telefonieren, um die Ungerechtigkeit zu klären, dass die Asche meines Vaters nicht in unserem Dorf verstreut werden kann. Habe ich mit der Pfarrgemeinde die Hygiene- und Abstandsregeln für die Totenwache ebenso durchgesprochen, wie die Verantwortung, wer genau die Gebete und Lieder für die halbstündige Zeremonie übernimmt, die Gästeliste zusammengestellt und den Platzanweiser-Posten übernommen. Habe ich mich mit Witwenrentenanträgen, Auflösungen von Lebensversicherungen, Kontosperrung und Buffetauswahl für die Verabschiedungsveranstaltung beschäftigt. Nebenbei habe ich noch versucht Marketing-Strategien für die Arbeit zu durchdenken, Studentische Hilfskräfte einzustellen und die IT-Probleme meiner Kolleg*innen zu lösen. „Muss“ ja alles erledigt werden. Es mussten auch die anstehenden Ärzt*innen-Besuche meines Vaters für das Jahr 2021 – nicht einmal 24 Stunden nach seinem Tod – abgesagt werden, Anzeigen in Zeitungen mussten gestaltet und geschaltet werden und der Boden im halboffenen Wintergarten musste geschrubbt werden. Was sollen auch die Leute denken? Dorf-pressure. Gestern war ich ohne Unterhose, nur in Joggingpant mit fettigen Haaren, Schlabber-Shirt, weißen Socken und den alten Birkenstocks meines Papas beim Dorf-Bäcker. Ich wollte ein Zeichen setzen. Nicht mit mir. Ich muss für die Leute im Dorf nicht aufgehübscht sein. Ich darf auch ohne Unterhose – so wie ich nun mal bin – Müsliweckchen, Ciabattabrötchen und Kirsch-Streuselkuchen kaufen. Schließlich ist mein Vater gestorben und da soll ich nun auch noch Rücksicht auf die Leute nehmen, die mit Maske bekleidet hinter mir in der Schlange vor der Brötchenauswahl stehen und nicht wirklich wissen, wer der schlanke, barttragende, pickelfreie Ginger in der Reihe vor ihnen ist? 

Es ist toll, wie die Leute hier zusammenhalten. Unzählige Beileidsbekundungen erreichen mich und meine Familie jeden Tag. Mit wirklich tollen Worten der Anteilnahme. Abgesehen vom Unwort des Jahres 2020 für mich: Heimgang. Es ist schön zu sehen, wer dem Tod meines Vaters gedenkt. Auch, dass die Nachbar*innen zu Ort und Stelle sind und Hilfe anbieten. Aber wieso sind die Erwartungen von (meist) fremden Menschen in unserem Dorf so hoch? Wieso beschweren sich Menschen darüber, dass sie nicht persönlich vom Ableben meines Vaters unterrichtet wurden und die Information aus der Zeitung erhalten „mussten“? Wieso haben die 30 Telefonate, die ich schon Sonntag geführt habe und die ich stets mit den Worten startete: „Ja, hier ist Andreas und ja, ich rufe an, weil es eine schlimme Nachricht gibt.“ nicht ausgereicht? 

Kein Wunder also, dass meine Mutter nun vor den offenen Türen des Schranks steht und durch die Mengen an Blusen und Pullovern streicht und nicht weiß, welche dieser scheißigen, schwarzen Klamotten sie heute Abend zur Totenwache tragen soll. „Ich hab Lust auf Schokolade.“ Ich hab die Befürchtung, dass ihr Kopf in wenigen Sekunden einfach nach vorne überfallen wird.„Gut, dann ab ins Auto und wir fahren zu Deinen Lieblings-Schokoladen in die nächste Stadt.“ Ich schaue sie voller Erwartung an.„Nein, das geht doch nicht. Was sollen die Leute denken? Und ich muss doch noch so viel machen.“Bis zur Totenwache sind es noch 9,5 Stunden. Ich gehe zwei Schritte auf sie zu, nehm‘ sie in den Arm und flüster‘ ihr ins Ohr: „Das einzige, was wir müssen, ist sterben. Und das haben wir diese Woche ausreichend. Los, ab zu Lindt!“Das erste Lächeln, das ich seit Tagen von ihr sehe, lässt mich erleichtert ausatmen und hoffen.Wir fahren zu Lindt, tragen kein Schwarz, bieten keinen Bienenstich zu Tee und Kaffee und werden die Asche meines Vaters irgendwie, irgendwo und irgendwann verstreuen.

Denn am Ende ist es doch so: Was muss, das muss nicht, denn das muss KANN von uns entschieden werden.

andreas

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