„Sind das echt 18cm?“
„Natürlich, wenn ich’s doch sage!“ Ich kneife noch einmal meine Augen zusammen, versuche durch meine beschmutzte Brille auch wirklich die richtige Länge abzulesen und nicke noch einmal sicherer. „Hör doch einfach auf mich!“
Ich muss lachen. Ich knie auf dem Boden meines alten Kinderzimmers, halte einen Zollstock in der Hand und messe das nächste Laminatbrett aus, das ich gerade mit meinen beiden älteren Brüdern verlege. In unser aller Kinder- und Jugendzimmer. Erst bewohnte es Bastian, dann Tobias und zum Ende hin dann ich. Ich hatte es in einem dunklen Grün mit braunen Highlight-Streifen an den Wänden verlassen. Drückend. Meiner Stimmung als Jugendlicher symbolisch passend. Meine Mutter hat das Zimmer erst vor kurzem hell – strahlend weiß – streichen lassen. Als Basti, Tobi und ich vorhin den alten Teppichboden rausgerissen haben, war es mein mittlerer Bruder der meinte: „Wenn dieser Teppichboden Geschichten erzählen könnte…“
Oh, dieser Teppich könnte einiges über mich erzählen: Er könnte die Selbstgespräche wieder geben, die ich mit mir zu meinen Gedanken geführt habe, während ich damals im Kinderzimmer lag. Er könnte werten, welche der hunderten Folgen TKKG, die ich abends zum Einschlafen auch damals schon gebraucht habe, die spannendste war. Er wüsste, wie mein Herz schlug, als ich mit dem ersten Mann, den ich heimlich in meinem abgeschlossenen Zimmer versteckt habe, von meinem Bruder erwischt wurde. Aber könnte er auch erzählen, wie ich zum Erwachsenen geworden bin?
In der letzten Zeit bin ich neben Kinderzimmer renovieren auch mit einem Wasserschaden in meiner eigenen, noch relativ neuen Wohnung beschäftigt, schreibe für die Uni eine Modulabschlussarbeit, fange die Arbeit auf, die durch die Kündigung meiner Kollegin entstanden ist und suche nebenbei noch Steuerunterlagen zusammen. Machen das Erwachsene? Neben der Arbeit noch daheim Probleme lösen? Sich einen neuen Backofen kaufen und Käse-Apfelkuchen backen? Ärzt:innen-Termine selbst am Telefon vereinbaren und sich dabei wünschen, dass die Mutter noch einmal zum Telefon greifen und mit der Sprechstundenhilfe am anderen Ende der Leitung alles weitere klären könnte? Sind Erwachsene soweit im Leben, dass sie mit dem Mietverein telefonieren, in Zoom-Calls sitzen und Vorträge halten?
So komme ich nicht umhin mich zu fragen: Wann sind wir von Kindern zu Erwachsenen geworden?
Vor 1,5 Jahren tanzte ich lautstark singend zu Disney-Musik durch meine alte Wohnung und wurde dabei von einem – an dieser Stelle nicht weiter zu beschreibenden Menschen – beobachtet. Nach einem hohen C und einer Drehung um meine eigene Achse, für die ich bei Let‘s Dance sicher im Finale gestanden hätte, musste ich kurz innehalten und habe die Frage in den Raum geworfen: „Bin ich eigentlich zu kindisch?“ „Manchmal schon“ war die Antwort. Ich müsste lügen, wenn ich mir seitdem nicht immer wieder Gedanken darüber mache, ob ich wirklich zu kindisch bin. Nun knie ich hier also wieder auf dem Boden meines Kinderzimmers, mit meinen beiden älteren Brüdern, die mich damals als Kind schon immer abgehängt haben. Ich als Nachzögling, als Letztgeborener, als „Liebe-Jung“. Und dennoch hören die beiden nun auf mich, schneiden Bretter nach meinen Maßen, glauben mir, dass um den Türrahmen noch das letzte Stück Laminat passt und folgen sogar meiner Idee, noch das nächste Zimmer in unserem Elternhaus zu renovieren.
Wir verhalten uns quasi wie Erwachsene, wenn wir uns einen Schlagabtausch über Maße, Dämmmaterial und Legetechniken geben. Wenn wir Erbmasse und -scheine diskutieren und dabei nicht unseren Humor verlieren. Wenn wir zwischen zwei RedBull und einer Monster-Dose ackern und in Bestzeit neuen Boden verlegen.
In den vergangen Tagen habe ich über Erwachsensein lange mit Lina oder Mike oder David philosophiert. Zwischen gestapeltem Laminat und ohrenbetäubenden Trocknungsgeräten, bestellten Starbucks-Getränken und Kartenspiel-Partien diskutierten wir Fakten zum Erwachsensein. Es ging um Lebensmodelle, Altersspannen, Erwartungen, die wir als Kinder an das Erwachsensein hatten und an die darauffolgende Realität, wenn diese nicht erfüllt wurden. Mike zählte Dinge meines Lebens auf, an denen er fest macht, dass ich erwachsen bin. Alleine wohnen, erfolgreich in den Jobs sein, ein Hochschulabschluss. David wiederum ersetzte Erwachsensein eher mit Herangewachsensein. Und Lina? Sie war weg von den Lebensmodellen, die in der Gesellschaft das Bild der Erwachsenen prägten und hin zu erwachsenen Entscheidungen. Eigene Verantwortung für eigene Entscheidungen. Und ich? Ich war wie immer die Summe meiner besten Freund:innen. Natürlich bin ich froh, allein zu wohnen und mir einen Backofen leisten zu können, der die Feuchtigkeit des Kuchens messen und danach die Backzeit selbstständig einstellen kann. Natürlich hatte ich damals als Kind Erwartungen an Erwachsene. An mein Erwachsensein. Natürlich spiegelten sie nie die Realität wider. Natürlich fand ich es toll, dass meine Mutter meine Ärzt:innen-Termine machte, als ich als Jugendlicher mit unerklärlichen Bauchschmerzen zu kämpfen hatte. Und natürlich bin ich nun froh, wenn ich mir meine Ärzt:innen selbst aussuchen und zwischen Handwerker:innen-Besuche organisieren kann. Und natürlich kann ich nur mit Kinderhörspielen einschlafen, lese gerne Coming-of-Age Romane, schaue gern Sonntagmorgens Cartoons, kann an keiner Schaukel an einem Spielplatz vorbeispazieren, ohne sie zu nutzen oder tanze zu Disney-Musik laut singend und tanzend nur in Unterhose durch meine Wohnung. Gleichzeitig treffe ich meine eigenen Entscheidungen, performe in meinen ganzen Jobs, trage Verantwortung für Greta, wenn sie allein ein Wochenende bei mir übernachtet, habe mich weiterentwickelt und vom Leben gelernt. Und ich verlege hervorragend und zielsicher Laminatboden und mache somit aus einem Kinderzimmer ein mögliches Erwachsenenzimmer.
Während ich also das Babygeschrei aus dem Erdgeschoss die Treppe hochschallen, meine Mutter lachen und Bastian etwas Unverständliches fluchen höre, setze ich mich auf den neuen Boden in meinem alten Kinderzimmer. Ich lehne mich an die kalte, verputzte und nun strahlend weiße Wand und strecke die Beine aus. Ich lasse meinen Blick durch mein altes Kinderzimmer schweifen, das nun so anders aussieht. In diesem alten und doch so neuen Zimmer. Ich fühle mich anders als damals und auch wieder nicht.
Denn am Ende ist es doch so: Nichts hat sich geändert, aber alles ist anders.